Das Palästinalied

In der Forschung gibt es eine Menge Probleme um Walther von der Vogelweide: Man schätzt aufgrund seiner eigenen Anspielungen in den Gedichten und von Erwähnungen anderer, dass er um 1170 geboren und um 1230 gestorben ist. Es gibt so gut wie keine urkundlichen Zeugnisse über ihn.

Sänger und Dichter, die Sangsprüche verfassten, welche über die geistliche und Liebeslyrik hinausgehen und sich mit der Politik befassten, gab es von ihm wohl keine.

Ob es sich beim dem Palästinalied um ein Kreuzzugslied handelt, wie in der älteren Forschung angegeben, wird heute bezweifelt, obwohl sich Walther verschiedentlich mit dem Kreuzzugsgedanken befasst hat.

Immerhin handelt es sich bei dem Palästinalied um eines der wenigen Lieder, von denen sowohl Text als auch Melodie überliefert sind. (Mehr zu Walther von der Vogelweide: siehe unten.)

1.
Álrêrst lébe ich mir werde,
sît mîn sündic ouge siht
daz here lant und ouch die erde,
der man sô vil êren giht.
ez ist geschehen, des ich ie bat:
ích bin komen an die stat,
dâ got menischlîchen trat.

1.
Nun erst lebe ich würdig,
seit mein sündiges Auge sieht
das reine Land und auch die Erde,
der man so viel der Ehren gibt.
Mir ist passiert, worum ich stets bat
ich bin an die Stätte gekommen,
wo Gott die Menschwerdung antrat.

2.
Schoeniu lant, rîch unde hêre,
swaz ich der noch hân gesehen,
sô bist dûs ir aller êre.
waz ist wunders hie geschehen!
daz ein magt ein kint gebar,
hêre über áller engel schar,
wáz daz niht ein wunder gar?

2.
Schöne Länder, reich und herrlich,
was ich von solchen bis heute gesehen,
so bist du ihrer aller Krone.
Was für ein Wunder ist hier geschehen!
Daß eine Magt ein Kind gebar,
erhaben über aller Engel Schar,
war das nicht ein vollkommenes Wunder?

3.
Hie liez er sich reine toufen,
daz der mensche reine sî.
dô liez er sich hie verkoufen,
daz wir eigen wurden frî.
anders waeren wir verlorn.
wól dir, spér, kriuze únde dorn!
wê dir, heiden, dáz ist dir zorn!

3.
Hier ließ er, der Reine sich taufen,
damit der Mensch rein sei.
Dann ließ er sich hier verkaufen,
damit wir Leibeigene frei würden.
Anderenfalls wären wir verloren.
Wohl Dir, Speer, Kreuz und Dorn!
Weh Dir, Heiden, das ist Dir ein Ärgernis!

4.
Dô ér sich wolte über úns erbarmen,
dô leit er den grimmen tôt,
ér vil rîch über úns vil armen,
daz wir komen ûz der nôt.
daz in dô des niht verdrôz,
dâst ein wunder alze grôz,
aller wunder übergenôz.

4.
Da er sich wollte unsrer erbarmen,
da erlitt er den grausamen Tod,
er, der Allmächtige, über uns so Armselige,
damit wir entkämen der Not.
Daß ihn das damals nicht verdroß,
das ist ein Wunder übergroß,
das aller Wunder, seinesgleichen nicht hat.

5.
Hinnen vuor der sun ze helle,
vón dem grábe dâ ínne lac.
des wás der vater ie geselle
únd der geist, den nieman mac
sunder scheiden, éz sî ein,
sleht und ebener danne ein zein,
als er Abrahâme erschein.

5.
Von hier fuhr der Sohn zur Hölle,
von dem Grabe, darin er lag.
Dabei war stets des Vaters Beistand
und der Geist, den niemand kann
gesondert scheiden, es soll eins sein,
klar und weiter als ein Schein,
so wie er Abraham erschien.

6.
Dô ér den tuifel álsô geschande
daz nie keiser baz gestreit,
dô vuor ér her wíder ze lande.
dô huob sich der juden leit:
dáz er, hêrre, ir huote brach
und dáz man ín sît lebendig sach,
dén ir hant sluog unde stach.

6.
Als er den Teufel dort geschunden,
wie nie ein Kaiser besser stritt,
da kam er wieder zum Land.
Da hob sich an der Juden Leid:
Daß der Herr ihre Bewachung brach
und daß man ihn dann lebend sah,
den ihre Hand schlug und stach.

7.
Da nâch was er in dem e lande
vierzic tage, dô vúor er dar,
dannen in sîn vater sande.
sînen geist, der uns bewar,
dén sant ér hin wider ze hant.
heilig ist daz selbe lant,
sîn náme, der íst vor got erkant.

7.
Danach war er in dem Lande
vierzig Tage, dann fuhr er dorthin,
woher ihn sein Vater sandte.
Seinen Geist, der uns bewahre,
den sandte er gleich wieder her.
Heilig ist eben dieses Land,
sein Name, der ist vor Gott anerkannt.

8.
In daz lant hât er gesprochen
einen angeslîchen tac,
dâ der weise wirt gerochen
und diu witwe klagen mac
und der arme den gewalt,
den man hât mit in gestalt.
wol im dort, der hie vergalt!

8.
Auf das Land hat er gesprochen
einen schrecklichen Gerichtstag,
an dem der Waise wird gerächt
und die Witwe Klage erheben kann
und der Arme gegen die Gewalt,
die man ihnen angetan hat.
Wohl ihm dort, der hier vergilt!

9.
Únserre lántréhter tihten
fristet dâ niemannes klage,
wan er wíl dâ zé stunt rihten.
sô íst ez an dem lesten tage.
und swer deheine schulde hie lât
unverebent: wie der stât
dórt, dâ er pfánt noch bürgen hât.

9.
Nicht wie unsere Landrichter täten
schiebt man da niemandes Klage auf,
denn er wird da sofort richten.
So wird es am letzten Tage sein.
Und wer irgendeine Schuld hier läßt
ungetilgt: Wie steht der da,
dort, da er weder Pfand noch Bürgen hat.

10.
Ír lât iuch des niht verdriezen,
daz ich noch gesprochen hân?
sô wil ich die rede entsliezen
kurzwîlen und iuch wizzen lân,
swáz got wúnders hie noch lie,
mit der werlte ie begie,
daz huob sich dort und endet hie.

10.
Ihr laßt euch dessen nicht verdrießen,
was ich bis jetzt gesprochen habe?
so will ich die Rede weiterführen
in Kürze - und euch wissen lassen,
was Gott an Wundern hier noch werden ließ
und für die Welt ins Werk gesetzt hat,
das hub dort an und wird hier enden.

11.
Kristen, juden und die heiden
jehent, daz díz ir erbe sî.
gót, müeze éz ze rehte scheiden
durch die sîne namen drî.
al diu werlt, diu strîtet her:
wir sîn an der rehten ger.
reht ist, daz er uns gewer!

11.
Christen, Juden und die Heiden
behaupten, daß dies ihr Erbe sei.
Gott müsse es zu Recht entscheiden
um seiner drei Wesenheiten willen.
Die ganze Welt, die streitet hierüber:
Wir sind an der rechten Seite.
Recht ist, daß er es uns gewähre!

12.
Mê dann hundert tûsent wunder
hie in disem lande sint,
dâ von ich niht mê besunder
kan gesagen als ein kint,
wan ein teil von unser ê.
swem des niht genúoge, der gê
zúo den júden, die ságent im mê.

12.
Mehr denn hunderttausend Wunder
sind hier in diesem Lande,
davon ich nicht mehr im einzelnen
sagen kann als ein Kind,
außer einem Teil von unserem Recht.
Wem dies nicht genügt, der gehe
zu den Juden, die sagen ihm mehr.

13.
Vrowe min, durch iuwer güete
nu vernemet mine clage,
daz ir durch iuwer hochgemüete
nicht erzuernet, waz ich sage.
Vil lihte daz ein tumber man
misseredet, als er wol kann.
daran solt ir iuch nicht keren an .

13.
Meine Dame, durch eure Güte
vernehmt nun meine Klage,
damit ihr durch euer hohes Gemüt
von dem was ich sage nicht erzürnt.
Vielleicht, daß ein ungeschickter Mann
schlechter redet als er könnte
daran sollt ihr euch nicht stören.

Walther von der Vogelweide, gilt als der bedeutendste deutsche Lyriker des Mittelalters, welcher zwischen 1190 und 1230 als Berufsdichter Minnelieder und Sangsprüche verfasste. Von ihm sind über 500 Strophen in mehr als 20 Handschriften vom 13. - 16. Jahrhundert überliefert. Die mittelalterliche Hochschätzung Walthers bezeugte bereits Gottfried von Straßburg, der ihn an die Spitze zeitgenössischer Lyriker stellt, zudem sahen die Meistersinger in Walther einen der zwölf Alten Meister.

Walthers Lebenslauf wird durch Indizien aus den Sangsprüchen erschlossen. Eine lateinische Bildung wird durch die rhetorische Qualität und eine erkennbare Orientierung an der Vagantenlyrik deutlich. Seine regionale und ständische Herkunft sind unbekannt, sein dichterisches Werden stammt aus dem späteren österreichischen Reichsteil. So bemüht sich Walther in zahlreichen Sprüchen, allerdings vergeblich, um die Gunst des Babenberger Hofes.

Nach dem Tod Herzog Friedrichs I. 1198 findet Walther Aufnahme am Stauferhof König Philipps von Schwaben, dessen Krönung und Legitimität er im staufisch-welfischen Thronstreit in mehreren Sprüchen propagiert. Doch auch der Stauferhof ist nur eine Station in dem Wanderleben Walthers von der Vogelweide. Bezugnahmen in seinen Texten zeigen ihn im Umkreis weiterer Höfe. Dass sich Walther bemühte, dem Status des Wanderdichters zu entkommen, belegt die Lehensbitte und der Lehensdank an Kaiser Friedrich. Ein weiteres aus seinen Texten erschließbares Datum betrifft die Teilnahme am fünften Kreuzzug (1228/29). Walthers Grab befindet sich im Kreuzgang des Würzburger Stifts Neumünster.

Walthers literarisches Schaffen zeigt sich im Minnesang und in der Sangspruchdichtung. Den Minnesang entwickelte Walther durch eine Intensivierung vorhandener Ansätze und durch Aufnahme neuer Aspekte weiter. Gleichfalls hat er minnedefinitorische und -kritische Erörterungen formuliert. In seinen Werken blendet er die ständische Position aus und gibt der Minne eine erzieherische Wirkung für die höfische Gesellschaft. Sein ausserordentlicher Rang, am überzeugendsten in den sog. Mädchenliedern dargestellt, begründet sich in der poetologischen Konzeption, der sprachschöpferischen Kraft, dem Metaphernreichtum und der Vielfalt der Liedtypen.

Ein weiterer Aspekt seines Schaffens war die Sangspruchdichtung, die pointierte Behandlung verschiedener Themen in jeweils einer zum gesungenen Vortrag bestimmten Strophe. Durch Verwendung von mehr als 20 verschiedenen Tönen als Strophen- und Melodienformen führte er diese Dichtung zum Höhepunkt und wurde Orientierung nachfolgender Sängergenerationen.

Abgerundet wird das Werk Walthers von der Vogelweide durch Dichtungen, die sich auf religiöse Themen beziehen, etwa den Alters-, Weltabsage- und Kreuzzugsliedern. Auch den Marienleich, einen gebetsmäßigen Gottes- und Marienpreis, präsentierte Walther in einer hymnischen Großform, in der er auch eine Kirchen- und Papstkritik mit einfließen ließ.